Ein bisschen Kontrolle, ein bisschen Loslassen
Einst war die Musik ihr Ein und Alles. Synth-Pop mit Technoir und Inside, Dream-Pop mit Chandeen, Shoegaze mit Phosphenes und Seasurfer; dazu: Gastgesang bei mehreren anderen Bands und Projekten. Heute ist die Stimme von Julia Beyer hingegen nur noch selten zu hören. Die Fotografie, speziell mit Polaroid-Filmen, hat im Leben der Künstlerin aus dem Ruhrgebiet zunehmend die Funktion des Ventils für kreativen Output eingenommen. Und das mehr als erfolgreich. Ihre Bilder werden in Online-Galerien für bis zu 500 Euro gehandelt, sie ist auf internationalen Polaroid-Ausstellungen wie der Instant Art Exhibition in Paris und der Bombay Beach Biennale in Kalifornien vertreten und ist mit ihren Fotos in Bildbänden und Kalendern zu finden. Hin und wieder bekommt sie von Polaroid Filme und Kameras zum Testen.
VOLT hat Julia zu Hause in Essen besucht, die unverkäuflichen Originale und das ein oder andere Bier in der Hand gehabt – und mit ihr über ihre Kunst gesprochen.
Warum Polaroid-Fotografie?
Als ich 2008 mein erstes Album mit Chandeen aufgenommen habe, Teenage Poetry, bekam Mastermind Harald Löwy über Mike Brown von Lifewire Synthesizer aus den USA Kontakt zu Emilie Lefellic. Sie ist Polaroid-Fotografin und drehte für uns dann mit einer Super8-Kamera ein Musikvideo zum Song Welcome The Still. Ich wurde neugierig und beschäftigte mich weiter mit ihren Arbeiten. Diese Ästhetik und die Art und Weise, wie sie Bilder macht – das hat mich einfach begeistert.
Ein paar Jahre später kaufte ich meine erste eigene Polaroid-Kamera, hatte aber keine Ahnung von der Materie. Und der Film, den es damals gab, war relativ experimentell. Keins der Bilder ist etwas geworden. Deswegen habe ich das Ding zunächst ins Regal gestellt und erst 2014 einen zweiten Anlauf gewagt. Da waren die Filme auch etwas verbessert.
Was passierte, bis die ersten vernünftigen Ergebnisse aus der Kamera kamen?
Das Auge für Bilder ist das eine, der Umgang mit dem Film das andere. Bei Polaroid kommt es darauf an, wie er auf Licht reagiert, und es gibt Dinge, die man beachten muss, wenn man damit fotografiert. Das ist größtenteils Erfahrungssache. Irgendwann habe ich ein Gefühl dafür entwickelt. Bis ich wusste, was ich tue, habe ich sehr viele Filme verschossen. Aber: Man entwickelt einen anderen Blick, läuft auch ein bisschen anders durch die Welt, wenn man fotografiert. Mir sind dann Sachen aufgefallen, die ich sonst gar nicht gesehen hätte.
Man läuft ein bisschen anders durch die Welt, wenn man fotografiert.
Du arbeitest viel mit abgelaufenen Filmen. Was macht sie so besonders?
Der ursprüngliche, schon lange nicht mehr produzierte Polaroid-Film hieß Time Zero. Bei ihm war die Chemie ganz anders. Bilder mit einem frischen Film waren damals extrem scharf und haben sich sehr schnell entwickelt. Ich habe noch zwei Stück davon. Die sind 2005 abgelaufen, aber funktionieren noch. Fotos bekommen diese spezielle blaugrüne Farbe mit krassen gelben Flammeneffekten. Das ist einzigartig und lässt sich auch digital nicht reproduzieren. Weil er so selten geworden ist, ist dieser Film sehr gefragt. Bei Ebay zahlt man dafür bis zu 70 Euro.
Ein ziemlich teures Hobby ...
Mein großes Glück war, vor einigen Jahren bei einer Führung im Polaroid-Werk jemanden kennengelernt zu haben, der eine Menge davon im Keller hat und nichts damit anfangen konnte. Dankenswerter Weise schenkte er mir die Filme. Unvergesslich, als das Paket mit 33 Filmen ankam! Ich habe mir vorgenommen, damit wirklich nur besondere Sachen zu fotografieren – und das auch so umgesetzt.
Polaroid selbst ist 2008 insolvent gegangen. Es gäbe wohl keine Filme mehr, hätte Florian „Doc“ Kaps aus Österreich nicht das letzte Polaroid-Werk in Enschede in den Niederlanden gekauft und das The Impossible Project in Leben gerufen. Aber der Film musste komplett neu entwickelt werden, weil in dem alten Chemikalien waren, die aus Umweltschutzgründen verboten oder nicht mehr hergestellt wurden. Außerdem haben alte Polaroid-Zulieferer nicht mit dem neuen Besitzer gearbeitet. Mittlerweile heißt Impossible aber wieder Polaroid.
Bei dieser Art von Fotografie gibt es auch relativ viele Fehlschüsse …
Und genau das ist auch das Interessante daran! Das ist nicht so berechenbar wie ein digitales Bild, bei dem man genau weiß, was rauskommt, und deshalb auch ein bisschen langweilig ist. So hat man manchmal unerwartete Effekte in den Bildern.
Aber du kannst die Resultate auch forcieren oder antizipieren?
Durchaus. Mittels Mehrfachbelichtung, Farbfiltern oder Prismen, die ich vor die Linse halte. Oder auch im Nachhinein, durch sogenanntes Emulsion Lifting. Dabei werden zum Beispiel Farbschichten aus dem Bild übertragen beziehungsweise auch Transparenzen erzeugt, indem das Bild aufgetrennt und über andere Fotos oder Hintergründe gelegt wird. Polaroid-Fotografie hat also auch etwas mit Kontrolle zu tun. Ein bisschen Kontrolle und ein bisschen Loslassen.
Bei Musik hatte ich immer das Gefühl, mehr kämpfen zu müssen.
Musikalisch hast du deine Aktivitäten weitgehend eingestellt. Kompensiert die eine Kunst heute die andere?
Ein bisschen ist das wohl so. Mein Interesse an Musik wurde immer geringer und reziprok das an Polaroid immer größer. Ein fließender Prozess. Ich habe Musik gemacht, seitdem ich ein Kind war, und immer gedacht, das sei das Medium, mit dem ich mich ausdrücken möchte und muss. Aber oft empfand ich diese Liebe als einseitig.
Bei den Polaroid-Bildern ist das ganz anders. Noch nie, und das kann ich wirklich sagen, kam dazu ein negatives Feedback. Das fühlt sich ganz anders an, als Musik zu machen. Bei der Musik hatte ich immer das Gefühl, ich müsste mehr kämpfen, um die Anerkennung zu bekommen, die ich mir gewünscht hätte. Deswegen ist das jetzt viel dankbarer. Vermutlich kann ich auch einfach besser fotografieren als singen.
Du fotografierst auch für Musiker.
Es ist das Tollste, wenn ich die Fotografie mit der Musik verbinden kann. Zum Beispiel das Artwork für die letzten beiden Chandeen- und das Phosphenes-Album beizusteuern oder für andere Künstler zu arbeiten. Mit Laura Carbone, das waren tolle Sessions. Wir haben Fotos gemacht, die sie als Promobilder und für ein Vinylartwork verwendet hat. Wenn ich eins meiner Polaroids auf einem Vinyl sehe, ist das das beste Gefühl ever!
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